
Praxiswissen für medizinisches
und pflegerisches Fachpersonal
Die Versorgung von Menschen mit kognitivem Risiko stellt im Krankenhausalltag eine besondere Herausforderung dar. Dies gilt unabhängig davon, ob dies auf einer internistischen oder chirurgischen Station, in der Notaufnahme oder auf der Intensivstation geschieht. Neben spezifischen medizinischen Kenntnissen ist ein hohes Maß an Empathie sowie interdisziplinärer Zusammenarbeit erforderlich, um diesen Menschen gerecht zu werden. Auf dieser Seite stellen wir Ihnen praxisorientierte Informationen, bewährte Therapieansätze bis hin zu nicht-medikamentösen Strategien zur Verfügung, die teilweise sofort in den Krankenhausalltag integriert werden können.
Demografische Entwicklung in Deutschland
Der Anteil der Menschen im Erwerbsalter wird in den nächsten Jahren sinken und der Anteil der 67-Jährigen und Älteren wird um ca. 30 % steigen. Die Verschiebung in der Altersstruktur der Bevölkerung zugunsten älterer Menschen zeigt sich deutlich in der Verschiebung der Anteile der Krankenhausfälle nach einzelnen Altersgruppen.
Infolge demografischer Veränderungen ist ein deutlicher Rückgang des Anteils der unter 40-jährigen Menschen an allen in Krankenhäusern behandelten Fällen zu erwarten. Dieselbe Entwicklung wird auch für die Gruppe der 40- bis 60-Jährigen bis zum Jahr 2030 zu prognostiziert. Bis 2030 wird der Anteil der 60- bis unter 80-Jährigen dagegen um 19,1 % (auf 2008 bezogen) ansteigen.
Es ist zu erwarten, dass sich der Anteil der Krankenhausfälle, der auf die Altersgruppe der 80-Jährigen und Älteren entfällt, bis zum Jahr 2030 verdoppeln (auf 2008 bezogen, um 48,9 %) wird. Diese Entwicklung ist unter anderem auf die geburtsschwachen Jahrgänge der Kriegs- und Nachkriegszeit sowie auf die geburtenstarken Jahrgänge der 1950er und insbesondere der 1960er Jahre zurückzuführen
(Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 2010).
Demenz und Delir in bayerischen Krankenhäusern
Nach den Erkenntnissen der General Hospital Study (Bickel H. et. al., 2018) und den Daten der Krankenhausstatistik (Bayerisches Landesamt für Statistik, 2023) lässt sich die Verteilung von Demenz, Delir und leichter kognitiver Störung wie folgt schätzen:
Patientinnen und Patienten | |
1.25 Millionen | über 65 Jahre sind im Jahr 2022 aus bayerischen Kliniken entlassen worden. |
749.000 (60 %) | sind kognitiv unbeeinträchtigt.Patient die Aufklärung bzw. Empfehlung? |
499.100 (40 %) | wiesen kognitive Störungen auf. |
246.600 (19,8 %) | wiesen leichte kognitive Störungen auf. |
229.600 (18,4 %) | sind an einer Demenz erkrankt. |
63.800 (5,1%) | entwickelten ein Delir. |
40.800 (3,3 %) | entwickelten neben der bekannten Demenz ein Delir. |
23.000 (1,8 %) | entwickelten ein Delir ohne Demenz. |
Stressoren im Krankenhaus
Für Menschen mit Demenz ist ein Krankenhausaufenthalt mit zahlreichen Stressoren und Risiken verbunden, die u. a. eine Verschlechterung des Allgemeinzustandes, herausfordernde Verhaltensweisen sowie ein Delir begünstigen können. Die abgebildeten Stressoren führen nicht nur zu einer höheren Belastung der Betroffenen, sondern auch zu einer gesteigerten Arbeitsbelastung bei beteiligten Akteurinnen und Akteuren. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, ist es daher unerlässlich, ein demenzsensibles Umfeld zu schaffen.
Die gute Nachricht – an allen Stressoren kann gearbeitet werden!
Wege zu einer optimierten Versorgung von Menschen mit kognitivem Risiko
Demenzerkrankungen verlaufen zumeist über einen mehrjährigen Zeitraum, wobei die Lebensqualität der Betroffenen und Angehörigen zunehmend beeinträchtigt wird. Eine umfassende medizinische, pflegerische und soziale Begleitung ist daher unbedingt erforderlich. Die Therapie von Demenzerkrankungen umfasst die medikamentöse und die nicht medikamentöse Behandlung der primären Demenzsymptome, d. h. der kognitiven Störungen und Funktionsbeeinträchtigungen sowie den adäquaten Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen.
Die genannten Therapien sollten in einen Behandlungsplan integriert werden, der auch Beratung umfasst. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass die betroffenen Personen eine informierte Entscheidung treffen können und dass der Behandlungsplan den Erfordernissen einzelner Krankheitsphasen angepasst wird. Die Einbindung des betreuenden Umfelds stellt einen zentralen Bestandteil der Versorgung dar
(S3 Leitlinie Demenzen, 2025).
Bei älteren Krankenhauspatientinnen und -patienten treten gehäuft kognitive Einschränkungen auf, wobei demenzielle und delirante Syndrome von besonderer Relevanz sind.
„In über der Hälfte der Fälle werden die Syndrome Demenz und Delir nicht erkannt, nicht diagnostiziert und entsprechend nicht adäquat behandelt.“
Die Fachgesellschaften DGPPN, DGGPP, DGG, DGGG und DGN empfehlen fest implementierte Screening-Strategien, um kognitive Störungen möglichst frühzeitig zu erkennen und diese in der weiteren Behandlungsplanung adäquat zu berücksichtigen. Dies erfolgt vor dem Hintergrund der hohen Prävalenz sowie der Risikoträchtigkeit der Syndrome. Die erfolgreiche Implementierung einer Screening-Strategie setzt voraus, dass die beteiligten Berufsgruppen in der korrekten Anwendung geschult werden.
Darüber hinaus wird empfohlen, Patientinnen und Patienten ab einem Alter von 65 Jahren bei der Aufnahme in ein Krankenhaus auf das Vorliegen einer kognitiven Einschränkung zu untersuchen, beispielsweise mittels 4AT
(4A-Test, Assessment test for delirium & cognitive impairment). Auch während des Aufenthalts ist eine kontinuierliche Beobachtung des Patienten bzw. der Patientin erforderlich, um etwaige kognitive Veränderungen zu identifizieren. Die Implementierung eines festen Algorithmus, der die Maßnahmen bei Vorliegen einer kognitiven Einschränkung exakt definiert, ist von essentieller Bedeutung. Unter Umständen sind weitere Testungen erforderlich.
Konkrete Informationen zu Screening-Strategien, Screening-Instrumenten in den verschiedenen Bereichen eines Krankenhauses und Konzepten zur Delir-Prävention sowie Delir-Management können Sie den Empfehlungen für das Delir- und Demenz-Screening sowie Delir-Management im Krankenhaus der oben genannten Fachgesellschaften entnehmen.
Medikamentöse Ansätze
Die Optimierung der Medikation stellt eine der zentralen ärztlichen Aufgaben in der Behandlung älterer Patientinnen und Patienten mit kognitivem Risiko dar.
Das Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) ist bei diesen Menschen besonders erhöht, was auf eine veränderte Pharmakokinetik und Pharmakodynamik zurückzuführen ist Hoffmann, 2023.
Insbesondere eine hohe anticholinerge Belastung kann kognitive Einschränkungen begünstigen. Dies unterstreicht die Bedeutung einer vorsichtigen und individuell angepassten Medikation, die auch einer regelmäßigen Überprüfung bedarf, um z. B. bei herausforderndem Verhalten eingesetzte Neuroleptika schnellstmöglich wieder absetzen zu können (S3-Leitlinie Demenzen, 2025).
Grundsätzlich sind alle nicht-medikamentösen Ansätze, wie z.B. eine Prävention von herausfordernden Verhaltensweisen durch verstehende Diagnostik und personzentrierte Ansätze, Validation, Kommunikationstraining, Milieugestaltung und Angehörigenberatung, der medikamentösen Therapie vorzuziehen.
Kognition | Kann sich die Patientin/ der Patient die Medikamentenempfehlungen merken, kann er diese umsetzen? |
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Sehfähigkeit | Kann die Patientin/ der Patient den Medikamentenplan lesen? |
Hörfähigkeit | Versteht die Patientin/ der Patient die Aufklärung bzw. Empfehlung? |
Inaktivität | Kann sich die Patientin/ der Patient die empfohlenen Medikamente in der Apotheke besorgen? Sind die Medikamente zu Hause in erreichbarer Nähe? |
Soziales Umfeld | Gibt es An- oder Zugehörige, die die Medikamente besorgen können, sie richten und die Einnahme sicherstellen? |
Depressionen | Hat die Patientin/ der Patient genügend Lebenswillen, um einer Medikamententherapie gegenüber aufgeschlossen zu sein? |
Dysphagie/ Zahnstatus | Kann die Patientin/ der Patient die Medikamente schlucken? Sind gegebenenfalls Tropfen/Pflaster besser geeignet? |
Grafik 5: Aspekte, die im Alter bei der Medikamentenauswahl und –empfehlung berücksichtigt werden müssen, Eigene Darstellung nach Hoffmann, U., Management der Polypharmazie bei älteren Menschen mit Multimorbidität, Die Innere Medizin, 1/2024, S. 2
Werfen Sie gerne einen Blick auf die Veranstaltungsseite unseres 2. Symposiums Demenz, Delir und Polypharmazie! Hier erhalten Sie weitere Informationen zu den Themen Medikamentenmanagement und Umgang mit den Herausforderungen der Polypharmazie.
Nicht-medikamentöse Ansätze
Allen Stressoren kann in spezifischer Weise begegnet werden. Über die Einzelmaßnahmen hinaus ist eine grundlegende Haltungsänderung im gesamten System Krankenhaus erforderlich, um den spezifischen Bedürfnissen von Menschen mit kognitivem Risiko gerecht zu werden. Die Sensibilisierung aller Mitarbeitenden des Krankenhauses durch geeignete Schulungsmaßnahmen zum Thema stellt dabei einen wesentlichen Aspekt dar. Die Abbildung 6 verdeutlicht weitere Handlungsansätze, die einer Bearbeitung bedürfen.
Was Sie sofort tun können
Eindeutige Kommunikation | Verwenden Sie einfache, klare und kurze Sätze. Berücksichtigen Sie Defizite im Arbeitsgedächtnis. |
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Ruhige Umgebung | Minimieren Sie Geräusche und Ablenkungen in der Umgebung zur Reduzierung von Angst und Verwirrung von Patienten, insbesondere im intensivmedizinischen Bereich. |
Tagesroutine und Vermeidung von Ortswechseln | Achten Sie auf feste Zeiten für Medikamente, bündeln Sie ärztliche Maßnahmen und führen Sie Untersuchungen vorzugsweise am Patientenbett durch. |
An- und Zugehörige | Binden Sie An- und Zugehörige in Betreuung, Behandlungsprozesse und Entscheidungsfindungen ein und ermöglichen Sie ihnen v. a. in der Notaufnahme und auf Station eine kontinuierliche Begleitung. |
Diagnostische Hilfsmittel | Nutzen Sie Screening-, bzw. Assessment-Instrumente (z. B. 4AT) zur ersten Einschätzung des kognitiven Zustandes und zur Dokumentation von Veränderungen. |
Verhaltensänderungen und Emotionen | Achten Sie auf Verhaltens- bzw. Affektveränderungen wie Unruhe, verminderte Aktivität, veränderter Tag-/Nachtrhythmus, Angst etc. und beheben Sie Ursachen (z. B. Schmerzen, nicht mehr benötigte Zu- und Ableitungen, unerfüllte Grundbedürfnisse, wie Toilettengang). |
Interdisziplinäre Zusammenarbeit | Arbeiten Sie u. a. mit pharmazeutischem Personal, pflegerischen Demenz- und Delirbeauftragten und geriatrischen Kollegen zusammen und führen Sie Fallbesprechungen durch. |
Medikationsmanagement | Nutzen Sie Arzneimittellisten, um auf potentiell inadäquate Medikation aufmerksam zu werden (vgl. Bereich Download) und reevaluieren Sie den Medikationsplan regelmäßig. |